Ende der Straße und nur noch Sand, Sand, Sand. Die Reifenventile werden geöffnet, zischend entweicht die Luft. Die Reifen werden platter und platter. Mich packt ein mulmiges Gefühl: jetzt muss Schluss sein. R. beobachtet den Vorgang aufmerksam. Noch mehr, sagt er, und: noch mehr. Im tiefen Sand kann man nur mit ganz platten Reifen fahren. Obwohl unsere jetzt weich aussehen wie vollreifer Camembert, bleibt der vierradgetriebene Geländewagen nach ein paar Kilometern im tiefen Sand stecken. Die Räder drehen durch. Man muss etwas unterlegen. Nur was? Auf der Landzunge erstreckt sich nichts als Sand, rechts der Sandbank das Meer, links der Fluss, der immer breiter wird, um sich am Ende brackwassernd ins Meer zu ergießen. Jemand findet den angeschwemmten Zweig einer Kokospalme. (Wie finden die Afrikaner nur immer so schnell etwas, das unsichtbar war?) Er wird unter den am tiefsten eingesunkenen Vorderreifen gelegt, und auf einmal greifen die Räder wieder. Weitere Kilometer geht es durch den Sand.
Wir fahren zum Fischen, zum Hochseeangeln. Silvester, Neujahr stehen bevor, und ich habe ein langes Kleid eingepackt. Dabei würden wir im Sand bleiben, das wusste ich nicht. Ein kleiner Konvoi, zwei Autos, acht Leute. Wir haben kaum etwas zu essen dabei. Baguette, Marmelade, Marinade, Kaffeepulver und etwas Zucker. „Wenn wir nichts fangen, hungern wir.“ R. lacht. Zwei Kanister Trinkwasser stehen im Kofferraum, und ein Papiersack voll Feuerkohle. Die Sonne brennt. Ich als Europäerin kann unmöglich mit bloßen Füßen im Sand gehen, er ist glühend heiß. Sogar einzelne Sandkörnchen brennen, die auf die Innensohle der Flip-Flops hüpfen. R. geht problemlos barfuß durch den Sand. Er trägt jetzt nurmehr Shorts. Der Nachbar hat zwanzig Meter entfernt geparkt. Ein Militär aus Brüssel, zwei bleichgesichtige Freunde. Vor den Wagen rammen wir Stangen in den Sand und spannen Laken. Besser die Weißen sitzen im Schatten. R. steckt an der Küste mehrere Hochseeangeln auf und wirft die Ruten aus. Einmal hat er einen Tapon-Fisch gefangen, der größer war als er selbst.
Ich blicke aufs Meer, graublau-flirrend verschmilzt es mit dem Horizont. Auf einmal überkommen mich Weite und Ruhe. Wie R. liebe ich die Stille, und in diesem gewaltigen Natur-Eindruck des Meeres, der Sonne, der Wärme, in diesem Licht denke ich: das ist das eigentliche Leben, das bloße Sein. Ganz starke Gefühle: ich denke an die Verluste, die ich in meinem Leben erfahren habe. Und an die Liebe. An die wichtigsten Menschen, die jenseits des Meeres sind. „C’est très fort.“ – Das Leben kann stark sein, hart und grausam. Das ist R.s Erfahrung, und sie klingt immer wieder an. Er setzt sich neben mich, und findet sanfte Worte. „Harmattan. Das Meer ist ruhig. Ich mag das.“ Harmattan ist der heiße Wüstenwind, der um diese Jahreszeit von der Sahara nach Süden weht und Hitze und Trockenheit bringt. Wir sind in Benin, auf einer unbesiedelten Landzunge, ein Stück weit von Ouidah. R. ist ein weltberühmter Künstler, der auf der Documenta in Kassel ausstellte, aber Benin ist seine Heimat. „Aus dem Meer ziehe ich meine Energie“, sagt er, „die Inspiration kommt aus dem Kommen und Gehen. Es bringt die Fische – und die Werke. Du weißt nie, wie viele und ob überhaupt.“ Das ist stark hier, sage ich („c’est très fort“). Er schnaubt. Was glaubst du, wie viele meiner Freunde jetzt gerne mit uns hier wären. Aber sie sitzen in ihren Pariser Büros.
Drei Tage bleiben wir hier. Die Nächte verbringe ich unter freiem Himmel. R. und seine Frau haben ein Zelt für sich aufgespannt, die Kinder schlafen im Auto. Brüssel hat auch Zelte aufgebaut. Ich bleibe angekleidet, schlüpfe in einen leichten Baumwoll-Schlafsack und liege im Sand, Abertausende Sterne über mir am klaren Himmel. Kalt wird es nicht, aber taufeucht. Kaum dämmert es, steht die Sonne hoch, wärmt und trocknet. Die Dusche erledigt man im Meer. Aber wo geht man auf’s Klo? Ich sehe das bei den Afrikanern nicht, und ich traue mich auch nicht zu fragen. Wir Weißen gehen die Sandbank weit Richtung Landesinnere, bis wir uns außer Sichtweite wähnen. Aber man weiß es nie genau. Afrikaner sehen immer alles und bleiben selbst unsichtbar. Auf einmal ist eine kleine Gruppe Dorfkinder da. Sind sie die langen Kilometer durch den tiefen heißen Sand gegangen? Sie bleiben in der Nähe unserer Autos. Was essen sie? Was trinken sie? Das Brackwasser scheint mir kaum genießbar. Wo schlafen sie? Vielleicht gehen sie über Nacht ins Dorf zurück.
Die Spitzen der Hochseeangeln zieren kleine rote Leuchten. Zappelt eine in der Nacht, hängt ein Fisch am Haken. Mehrere Rochen beißen an. Sie werden zum Sterben in den Sand gelegt. Kurz zuckt das europäische Tierschutz-Herz, aber R. lacht: Wir haben etwas zu essen! Am Abend duftet der marinierte Fisch über den glühenden Kohlen, und Brüssel hat sogar eine Flasche Rotwein dabei. Ein Festmahl. Wir sind nämlich alle ziemlich hungrig. Geredet wird wenig. Für die europäischen Gäste ist das Erlebnis in der Einsamkeit und Nacht schlicht überwältigend, die Afrikaner und Einheimischen sind’s vielleicht gewöhnt, aber was gäb’s auch zu sagen? In stillem Einvernehmen schauen wir in den dunkelblauen Himmel, hängen unseren Gedanken nach und gehen schlafen.
Nicht dass ich viel schlafen würde in meinen tropischen Nächten unter freiem Himmel. Vielleicht vermisse ich einen Sternenkundigen. Vielleicht vermisse ich nichts. Diese drei Tage und zwei Nächte empfinde ich als die intensivste Zeit in meinem Leben, und das bar vieler Annehmlichkeiten wie fließendes Wasser, Bad, Strom, Kühlschrank oder käseüberbackene Gemüsenudeln. Dass ich allerdings Entbehrung nicht kenne, spüre ich, als wir Geschirr waschen. Wir tun das im Brackwasser, denn die starke Meeresströmung könnte die Teller rasch aus der Hand reißen. Eines der Dorfkinder will mir einen Teller abnehmen, ich zögere, es könnte ihn beim Spülen verlieren; außerdem will ich nicht für alles und jedes einen Diener, wie einem das als Weiße in Benin ja passiert. Aber der Junge will den Teller gar nicht waschen. Er will ihn ablecken! Genussvoll verdreht er die Augen, als seine Zunge die wenigen Tropfen Öl, Marinade mit Fischgeschmack, vom Porzellan schleckt. Mir bleibt fast das Herz stehen. Nicht nur ich Schwäbin, alle haben, hungrig, ihre Teller ganz, ganz leer gegessen, die Soßenreste mit Weißbrot aufgetunkt. Für den Bub bleiben ein paar Tropfen Öl, ein Hauch Geschmack.
Zum Abschied gibt R. jedem der Kinder eine Münze. Vielleicht 100 CFA, ein paar Cent. Zudem teilen sie unsere Mülltüten unter sich auf, und der Junge, der die leere Weinflasche ergattert, jubelt. R. dreht die leeren Kanister um. Exakt bis auf den letzten Tropfen war unser Wasser bemessen. Wir fahren, und auf der Teerstraße angekommen, hängen wir die Luftpumpen an den Motor, bis die Reifen wieder prall sind.