Afrotopia

Einmal bislang habe ich den ehemaligen Königspalast in Abomey/République du Bénin besucht. Das UNESCO-Weltkulturerbe ist eine beeindruckende Anlage, ich hatte eine gute Führung, sah wenige Besucher und wenige Objekte. An der Kasse das Übliche in Benin: kein Wechselgeld. Auch wenn man mit dem kleinsten Geldschein bezahlt, dauert es eine Ewigkeit, bis die Groschen Rückgeld aufgetrieben sind. Aus dem Palast, heute Museum und ehemals das Zentrum von Dahomey, wurden 1892 unter dem französischen General Dodds Kunstwerke geraubt. Benin forderte sie seit Langem zurück.

Und jetzt gehen sie zurück, aus dem Pariser Musée du Quai Branly in das Museum von Abomey. „Die Restitution des afrikanischen Kulturerbes. Für eine neue Ethik der Beziehungen“ heißt der Bericht, den die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und der Ökonom Felwine Sarr dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron im November 2018 übergaben. Er thematisiert, kurz gesagt, die Komplexität von Raub, Kauf, Schenkung, fädelt sie auseinander und versieht sie mit einer umfangreichen statistischen Datenbank. Zurück gehen an vor 1960 geraubter Kunst soll, was afrikanische Staaten zurückverlangen. Und als erstes, präsidiale Anordnung, gehen nun die Skulpturen nach Benin. Denn Savoy und Sarr haben bei ihrem Besuch in Abomey die spirituelle Anwesenheit und tatsächliche Abwesenheit dieser Skulpturen gespürt. Am darauffolgenden Tag erlebten sie die tatsächliche Anwesenheit der Skulpturen in Paris. So erzählen sie es bei Sarrs Buchvorstellung „Afrotopia“ im Literaturhaus in München am 16. Januar 2019. (Förderlich für die Rückführung mag, über das Spirituelle hinaus, gewesen sein, dass Marie-Cécile Zinsou, die in Cotonou und Ouidah in Benin eine Kunststiftung betreibt, sich dafür einsetzte, und dass ihr Vater, Lionel Zinsou, seinerzeit bei der Rothschild-Bank ein Kollege Macrons war.) „Doppelt ausgelöscht“ sei die Erinnerung bei den Afrikanern wie bei den Europäern, sagen Savoy und Sarr. Sie grenzen sich ab von Achille Mbembe, der die Restitution von Kunstobjekten auf eine Ebene mit der Abschiebung afrikanischer Flüchtlinge gestellt hat. (Sarr betreibt aber zusammen mit Mbembe das „Atelier de la Pensée“.)

Aber eigentlich sollte es ja um Sarrs Buch „Afrotopia“ gehen, auch bei der Veranstaltung im Münchner Literaturhaus. Der Ökonom aus Senegal sieht die Afrikadiskurse heute von einer „Doppelbewegung“ beherrscht: einem Glauben an eine strahlende Zukunft einerseits und Bestürzung angesichts einer chaotisch „wirkenden“ Gegenwart andererseits. Katastrophismus versus seligem Optimismus. Er attestiert Afrika einen Mangel an eigenen Denkfiguren und Zukunftsmetaphern. Der Kontinent brauche eine kritische Reflexion seiner selbst: sich selbst denken, sich darstellen, sich projizieren. „Afrotopia ist eine Utopie, die es sich zur Aufgabe macht, die gewaltigen Möglichkeitsräume innerhalb der afrikanischen Wirklichkeit aufzustöbern und sie fruchtbar werden zu lassen.“ Sarr will in seinem Denken „absoluter intellektueller Souveränität“ genügen und wehrt sich gegen – westliche – Vokabeln wie Entwicklung (schon per Kolonialisierung eingepflanzt) oder Millenniumsziele, die die besondere Kreativität Afrikas verleugneten. Er wehrt sich gegen eine Quantifizierung und preist die („nutzlose“) Energie beispielsweise afrikanischer Mega-Metropolen. Schließlich bildet das Leben ein „diffuses Ganzes“. An der westlichen Moderne kritisiert er, dass Individualisierung auch zu Vereinsamung geführt habe. Die Postmoderne führt in die Zivilisationskrise, führt zur Fragilität des Individuums, zu Depression, zu Selbstmord. Die „Afrikanische Moderne“ sieht er als den unmittelbaren und kollektiven Erlebnishorizont der Afrikaner (auch er wieder aus einer – historischen und psychosozialen – Doppelbewegungen hervorgegangen). Die Gegenwart afrikanischer Gesellschaften ist in der Krise. Einerseits fehlen Aspekte von „Moderne“, andererseits hat man sich westlichen Vorgaben unterworfen, nicht nur in Amtssprache, Bildung, Verwaltung: man verharrt in einem „Guter-Schüler-Komplex“. Insbesondere afrikanische Eliten seien dem Traum des Westens verfallen. Es fehle an einer eigenen afrikanischen Sinnhaftigkeit.

Der Ökonom wirft „die Wirtschaftsfrage“ auf, Geographie, Boden, Demografie (das Bevölkerungswachstum sieht er eher als Vorteil). Mehr Kontrolle der Regierungen durch die Bürger ist wünschenswert, eine starke Zivilgesellschaft. Die „Agenda 2063“ der Afrikanischen Union zeige, dass afrikanische Länder ihr wirtschaftliches Schicksal selbst in die Hand nehmen wollen. Wirtschaftswachstum und positive Entwicklungen sieht Sarr in Ruanda, Kenia, Kap Verde, Ghana, Äthiopien, Botswana, Mauritius. Die afrikanischen Ökonomien will Sarr in ihrem kulturellen Kontext verankern, im Imperativ der Großzügigkeit aus der Primärsozialisierung (Familie, persönliche Beziehungen) und sekundär im Gesellschaftssystem. Beispielsweise führt er die Arbeitsethik der senegalesischen Bruderschaft der Muriden an, die mit der protestantischen Ethik Max Webers verglichen wurde. Afrika kann sein Wirtschaftsmodell wählen. Sarr plädiert für ein ökologisches Modell. Und vor allem plädiert er dafür, Wirtschaftlichkeit mit Humanismus zu versöhnen. Wachstumsbegriffe müssen erweitert werden… sie sind nämlich nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell und spirituell. Diese Ressourcen müssen neu bewohnt und neu befruchtet werden.

Afrikaner streben zu sehr nach der Anerkennung durch Weiße. Sarr attestiert ihnen einen Mangel an Souveränität und will mehr Würde. „Es geht vor allem darum, nicht mehr als Opfer aufzutreten, sondern als Subjekt der eigenen Geschichte.“ Gefordert wird ein unverkrampftes, neu überdachtes Verhältnis zur Tradition. Auch Valentin-Yves Mudimbe, Kwasi Wiredu und Ngugi Wa Thiong’o forderten die Befreiung der Diskurse. Afrikanische Tugenden sind Ausdauer, Mut, Geduld, und eigene Werte des Zusammenlebens. Die Fähigkeit, Differenzen zu integrieren. Eine Revolution der Paradigmen und Praktiken muss stattfinden – einfach weil dermaßen viel auf dem Spiel steht! Für Sarr ist die Bildung wichtig, Massenbildung und eine Art der Ausbildung, die auf eine effizientere Organisation der Gesellschaft zielt. Die „koloniale Universität“ muss aufgelöst werden. Denn wie können junge Menschen ein positives Selbstbild bekommen, „solange von Theorien ausgegangen wird, die anderswo formuliert worden sind, und zwar in der Absicht, die Afrikaner in Subalternität zu halten“? Wie sich selbst neu erfinden ohne sich selbst fremd zu werden? Jedes Land müsse seine Forschung und Lehre den jeweiligen politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen anpassen.

Afrika muss seinen Mythos selbst erzählen und sich aus der Narration durch den Westen lösen: die „Entmythifizierung“ Europas. Die „Statue des Vaters“ muss gestürzt werden. Auch mittels Rückkehr in eigene afrikanische Sprachen? Die Welt muss neu geschaffen und vervollkommnet werden, und zwar laufend. „Afrotopos“ ist für Sarr Zukunft als geistig vorweggenommener Ort. Afrotopos ist ein Möglichkeitsraum. Auch „afrikanische Städte“ sind „Konfigurationen des Möglichen“, sind Orte der Sinnproduktion. Sehr schön ist das kleine Kapitel „Flanieren in afrikanischen Städten“. Ein Vorzug des Buches ist ein Überblick über afrikanische Denker und Kulturen seit dem 17. Jahrhundert, in Afrika und in der Diaspora. Sarr vergisst auch die Bedeutung von Literatur, von Romanen, nicht. Die Emanzipation der Frau als „existenzielle Herausforderung“ wird wenigstens erwähnt.

Erinnerungsarbeit, Identität, tiefgreifende Kulturrevolution. Im Literaturhaus in München geht es aber im Januar 2019 vor allem um die Restitutions-Debatte. Bénédicte Savoy erzählt humorvoll: Angefangen hat es mit Macrons Ouagadougou-Rede (eine sehr lange Rede, zwei Minuten und 33 Sekunden). Macron sagte: je veux… Einige Wochen später der Auftrag: nicht ob, sondern wie. Das Ob war schon entschieden: „Ich will, dass die Grundlagen geschaffen werden für die Rückgabe afrikanischer Kulturgüter.“ Savoy und Sarr haben den Auftrag angenommen, ehrenamtlich, und haben von März 2018 bis November 2018, acht Monate!, am Bericht gearbeitet, eine Gruppe von „kritischen Freunden“ versammelt, Philosophen, Künstler, Diaspora. Dann Museumsprofis – die eine besondere Gattung sind, weil sie ihre Objekte konservieren und nicht rausgeben. Haben Reisen in vier frankophone Länder, Benin, Mali, Senegal, Kamerun, unternommen, Workshops mit Museumsleuten in Afrika und mit Juristen veranstaltet, in Mali Aminata Traoré getroffen, die frühere Kulturministerin. In Kamerun ist das Nationalmuseum ein Propagandamuseum, stellten sie fest. Savoy und Sarr fanden einen Bericht aus den 1980er Jahren: damals wurde schon – aus Gründen der Fairness – für Restitution plädiert. „Temporäre Restitution“ macht keinen Sinn, schon nicht im Wortsinn, also endgültige Restitution. Wenn angefragt wird. Die Gesetzeslage in Frankreich muss noch geändert werden. Die Situation in afrikanischen Ländern muss auch geändert werden. Sarr spricht von einer „Resozialisierung von Objekten“. Das kollektive Unbewusste über die Abwesenheit von Anwesendem, von Objekten, fühlten sie, wie gesagt, in Abomey. In anderen Fällen sei es eher eine Art Amnesie, so beispielsweise im Senegal. Im Dakar-Workshop habe man nicht nur darüber nachgedacht, was mit den restituierten Objekten geschehen soll, sondern auch, was mit den Leerstellen in Europa geschehen könne. Afrikaner denken an Europa, an das Be-ziehen, nicht das Ab-ziehen. Also, wie lassen sich die Beziehungen neu finden? Das versteht Sarr unter der „neuen Ethik der Beziehungen“.

Sarr will eine Zivilisation des Habens und des Seins, plädiert für einen Übergang zu einem Mythos, der das Immaterielle mitberücksichtigt. Wie können wir gut, wie können wir besser zusammenleben? Sarr spricht von einem Projekt für die ganze Menschheit. Die Traditionen sind eine wichtige Ressource, für Afrika, aber nicht nur für Afrika. „Semantische Zirkulation“: die Objekte sind mit unterschiedlichen Bedeutungen belegt (das steht aber noch nicht im Buch, das Felwine Sarr ja schon 2016 auf Französisch veröffentlich hat). Der Kapitalismus, diese „erbarmungslose globale Wirtschaftsordnung“ ist das herrschende Paradigma. Setzt Sarr ihm eine starke Theorie entgegen? „Afrotopia“ ist (Zukunfts-)Metaphern-reich und verabreicht die „Lektion der Morgenröte“. Jeder Tag eine ontologische Vernissage, würde Sloterdijk sagen. Der tiefgründige Humanismus der afrikanischen Kulturen – Ubuntu: ich bin, weil wir sind – muss zutage gefördert werden. Keine neue Forderung. Die „Revolution“ muss eine spirituelle sein. Ja, gerne, sage ich zu Felwine Sarr, aber wie? Darauf ist er auch gespannt.

Ein wenig verwundert verlasse ich den Abend der Buchvorstellung „Afrotopia“ im Literaturhaus. Das Immaterielle und die spirituelle Revolution – und das Hauptinteresse der Besucherinnen und Besucher gilt Objekten. Grundsätzlich würde natürlich auch ich mich freuen, bei einem nächsten Besuch in Abomey die restituierten Skulpturen schön präsentiert und wohlerhalten anzutreffen. Wechselgeld an der Kasse wäre nicht schlecht.