Vor ein paar Jahren wollte ich in Harare, der Hauptstadt von Simbabwe, in einem Postamt Briefmarken kaufen. Zwei von drei Schaltern waren frei, aber man wies mich an, an dem mittleren Schalter, an dem gerade jemand bedient wurde, zu warten. Das dauerte geraume Zeit. Hinterher fragte ich meinen Fahrer, der draußen auf mich gewartet hatte, was das zu bedeuten habe. „Das bedeutet“, sagte er, „Simbabwe soll nie wieder kolonisiert werden.“ Vermutlich rollte ich mit den Augen. Mein Gott, ich will niemanden kolonisieren, ich will ein paar Briefmarken kaufen, um Postkarten nach Deutschland zu schicken! Die Erfahrung solch einer – schwarzen – Machtausübung gegenüber der – weißen – Fremden machte ich öfters in Ämtern in Simbabwe. In normalen Läden, im Hotel, bei Dienstleistungen war das nicht so. Aber in Behörden hat zuweilen die neue schwarze Elite den Gestus übernommen, den früher die Kolonialverwaltung an den Tag legte. „Mein Vater“, erzählte mein Fahrer, „durfte keine Flasche Wein kaufen ohne die schriftliche Genehmigung seines weißen ‚Masters‘.“ Schwarze wurden wie Kinder behandelt, sie durften keinen Alkohol kaufen. Schwarze wurden im Restaurant nicht bedient. Schwarze durften bestimmte Gebiete nicht betreten (außer als Reinigungspersonal). Schwarze durften in manchen Teilen des Landes nur in Begleitung eines Weißen ein Museum besuchen. Die meisten Kunst-Ausstellungen blieben für ein schwarzes Publikum völlig unzugänglich! Die Rassentrennung dauerte in Simbabwe bis 1980, bis das Land unabhängig wurde. In Südafrika dauerte die Apartheid bis 1996. Es nimmt nicht Wunder, dass in den beiden Ländern der Schwarz-Weiß-Diskurs viele Diskussionen über eine gesellschaftliche Veränderung beherrscht.
„Zu Beginn des Kolonialismus ereignete sich ein Wandel von einem durch Subsistenzwirtschaft geprägten Lebensstil zu einer kommerziellen Form der Landwirtschaft und Industrialisierung. Aus diesem Wandel ergab sich ein neues soziales, ökonomisches und politisches Profil“, schreibt Zvikomborero Mandangu (Zvikomborero Mandangu, Das Zeitgenössische – ein Abriss, in: Ignatius Mabasa (Hg.), Mawonero / Umbono. Moderne und zeitgenössische Kunst aus Simbabwe, Bielefeld 2016, S. 55-66, hier S. 55) und fährt fort: „Von Beginn an wurde die schwarze Bevölkerung von diesem politischen System ausgeschlossen, man beutete sie wirtschaftlich aus und unterzog die sozialen und politischen Praktiken ihrer Vergangenheit einer systematischen kulturellen Ausrottung.“ Die Negierung spiritueller und künstlerischer Tätigkeiten, bzw. ihre Umdeutung, auch durch das Christentum, wird von vielen jungen Simbabwerinnen und Simbabwern als das Hauptübel, als Verlust einer schwarzen Identität empfunden. Zwar bildeten sich, auch durch Zuwanderung aus Süd- und Zentralafrika, eigene Kunst- und Kunsthandwerk-Zirkel, aber die Vermarktung und damit auch Geschmacksausrichtung, was „afrikanisch“ oder „exotisch“ sei, übernahmen Weiße. Schwarze Künstler waren von den kommerziellen Kunst-Netzwerken ausgeschlossen. In der Post-Unabhängigkeitsregierung der 1980er Jahre wurde schwarze Selbstentfaltung propagiert, allerdings mit dem „Ersten fünfjährigen nationalen Entwicklungsplan“ nicht unbedingt umgesetzt. Ab 1988 organisierten sich simbabwische Künstlerinnen und Künstler selbst in internationalen „Pachipamwe“-Workshops und Ausstellungen. Zunehmend entstand schwarze Malerei – und nicht nur Bildhauerei –, Mixed-Media-Kunst und Fotografie. 1989 wurde mit dem Ende des Kalten Krieges auch der Kunstmarkt global. Simbabwische Kunst wurde politischer, auch um – mehr oder minder subtil – auf Missstände im eigenen Land aufmerksam zu machen. Bei offener Kritik setzten sich Künstler der Gefahr aus, verhaftet und misshandelt zu werden.
Die Schere zwischen einer extrem reichen kleinen Oberschicht und der fürchterlich armen Bevölkerungsmehrheit klafft auseinander. Simbabwe besitzt Bodenschätze wie Platin, Diamanten, Graphit und Gold, hat aber keine verarbeitende Industrie in diesen Sektoren, was es von Preisentwicklungen an den internationalen Rohstoffmärkten abhängig macht. Von den Bodenschätzen profitieren nur wenige Simbabwer der herrschenden Klasse. Landschaftlich ist Simbabwe von atemberaubender Schönheit. Queen Elizabeth, einstiges Staatsoberhaupt der Kronkolonie Rhodesien, nannte die Gegend um Mutare den „schönsten Platz in Afrika“. Simbabwe ist im afrikanischen Vergleich ein außerordentlich Literatur-affines Land, der Ausbildungsstand ist hoch. Es hat eine lange Kunst-Geschichte und eine gute Kunst-Infrastruktur, aber erst seit den 2000er Jahren sind Galerien und Museen unter überwiegend schwarzer Führung.
Bei der Unabhängigkeit von Großbritannien 1980 galt Simbabwe als Kornkammer oder Brotkorb des südlichen Afrikas. Eine Reform zu Beginn des Jahrtausends, die „weißen“ Großgrundbesitz auf Mitglieder der Regierungspartei Zanu-PF umverteilte, führte zum Einbruch der Produktion. Der Weltbank zufolge sank die Wirtschaftsleistung zwischen 1999 und 2008 um mehr als die Hälfte. Die meisten Großfarmen wurden unter schwarzen Kleinbauern aufgeteilt, doch diese produzieren fast nur für den Eigenbedarf. Seit der Hyperinflation und „Dollarisierung“ 2009 hat Simbabwe keine eigene Währung mehr. Heute sind die Lebensverhältnisse weiterhin angespannt. Trotz neuer Regierung, reichhaltiger Ressourcen und fruchtbarem Ackerboden hält der wirtschaftliche Abschwung an. Der Druck auf Präsident Emmerson Mnangagwa wächst. 90 Prozent der Menschen sind arbeitslos. Es gibt große Engpässe bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und Treibstoff. Die drastische Erhöhung der Benzinpreise im Januar 2019 trieb die Menschen auf die Straße. Die Polizei schlug hart zurück; es gab Tote. Weil Unternehmer „Bond Notes“ einnehmen, ihre Importe aber in US-Dollar zahlen müssen, sind den meisten Supermärkten und Unternehmen die Grundstoffe ausgegangen, so der Präsident des Industrieverbandes, Sifelani Jabangwe. Bargeldknappheit und Inflation nehmen zu. Südafrika fürchtet, dass die Krise die Simbabwer erneut zur Flucht veranlasst. In Südafrika leben bereits rund drei Millionen Simbabwer.
Robert Mugabe, ehemals Unabhängigkeitskämpfer, regierte Simbabwe mehr als drei Jahrzehnte mit harter Hand. Er gehörte zu den Herrschern, die sich unverfroren der Reichtümer ihres Staates bedienen. Über 80 Prozent der Bevölkerung mussten in der informellen Wirtschaft als Kleinunternehmer, Handwerker, Hausierer und Straßenhändler über die Runden kommen, unter ihnen auch viele Künstler. Mugabe ist im November 2017 unter erheblichem Druck zurückgetreten. Praktisch wurde er durch einen unblutigen Militärputsch entmachtet. Das Oberste Gericht in Harare erklärte das für verfassungskonform. Die Regierungspartei Zanu-PF sicherte Mugabe und dessen Frau Immunität zu; angeblich war die Straffreiheit Bedingung für den Amtsverzicht. Mugabe war übrigens in Simbabwe durchaus angesehen. Vor allem der älteren Bevölkerung erschien er als Held im Befreiungskampf gegen die Weißen. Der ehemalige Vizepräsident Emmerson Mnangagwa wurde neues Staatsoberhaupt. Von Teilen der Bevölkerung wird nun wiederum er als „Befreier“ gefeiert. Laut Amnesty International hat er entschieden, die Todesstrafe abzuschaffen. Jedoch fürchten ihn viele Simbabwer wegen seiner blutigen Vergangenheit. Mnangagwa ist verantwortlich für den Tod vieler Ndebele, des größten Volkes in der Süd-West-Region des Landes, bei der „Säuberungsaktion Gukurahundi“ in den 1980er Jahren. Aber jetzt kann offen über dieses Unrecht gesprochen werden. Ndebele und Shona, die ethnische Mehrheit in Simbabwe, streben Versöhnung und Einheit an. Trotzdem: Amtsmissbrauch und Korruption sind tief verwurzelt. Ein Neubeginn wird schwierig. Westliche Entwicklungshilfe sollte von rechtstaatlichen Reformen abhängig gemacht werden, zu rasche und bedingungslose Hilfe würde falsche Anreize setzen, sagt der Afrika-Kenner, Buchautor („Afrika wird armregiert“) und Botschafter a.D. Volker Seitz.
Was tatsächlich zu beobachten ist: ein Bewusstwerden des eigenen kulturellen Reichtums, eine neue und umfassende Definition von Identität und Erbe. Simbabwerinnen und Simbabwer der „Born-Free“-Generation erzählen ihre Geschichte selbst und folgen nicht mehr „weißen“ Lehrplänen. Durch Reisen und längere Auslandsaufenthalte bekommen junge Menschen einen veränderten Blick auf ihr Land. Manche, die zurückkommen, kaufen beispielsweise simbabwische Kunst; eine neue Käuferschicht als Ausdruck nationalen Selbstbewusstseins. Farai Mudododzi Chabata spricht von einer „Fubu“-Haltung: for us, by us, also für uns, von uns (Farai Mudodozi Chabata, Kontexte verändern. Für eine Weiterentwicklung zeitgenössischer Kunst in Simbabwe, in: Ignatius Mabasa (Hg.), Mawonero / Umbono. Moderne und zeitgenössische Kunst aus Simbabwe, Bielefeld 2016, S. 85-108, hier S. 95). Unabhängige Kunst, Forschung, Bildung, eigene Narration – und dafür staatliche Unterstützung. Kunsterziehung ist mittlerweile in die Schul-Lehrpläne aufgenommen. Aber den Großteil der Kunstförderung in Simbabwe leistet das Ausland, vor allem europäische Kulturinstitute.
In einem Biergarten in München erzähle ich am 18. April 2019 Cliford Zulu, Kurator an der National Gallery in Bulawayo, von meiner Erfahrung auf dem Postamt. (Es ist Jahrestag der Unabhängigkeit Simbabwes und wir trinken ein paar Weißbier zur Feier des Tages.) Oje, meint er, bestimmt habe der Postbeamte am Abend seiner Familie mit stolzgeschwellter Brust erzählt, dass er eine Weiße habe warten lassen. Aber rasch versichert mir Cliford, es sei nun besser als unter Mugabe. Auf jeden Fall müsse das Schwarz-Weiß-Denken aufgegeben werden. Simbabwe brauche neue Investoren und den Anschluss an die globalisierte Welt. Nicht alle jungen Leute sehen das so positiv wie Cliford Zulu. Manche sagen, es sei unter Mnangagwa schlimmer als unter Mugabe. Ein bisschen schlimmer – oder ein bisschen besser: das heißt, es hat sich noch nicht viel geändert. Allerdings reist Cliford Zulu von München zur Kunst-Biennale nach Venedig, wo Simbabwe seit Jahren einen eigenen „Pavillon“ hat, und er schreibt an einer eigenen Kunstgeschichte. Vielleicht schaffen es bald schwarze Künstler auf simbabwische Briefmarken. Und ich kriege sie am ersten freien Schalter verkauft.