Als ich in den 1980er Jahren zur Schule ging, war unsere Erdkundelehrerin erstaunt, wie wenige aus der Klasse das „drängendste Problem unserer Zeit“ als solches wahrnahmen: die Überbevölkerung der Erde. Damals hieß es, ab den 2000er Jahren gäbe es in Bangladesch „nur noch Stehplätze“. Bangladesch hat sein Bevölkerungsproblem in den Griff bekommen: von fünf ist die Fertilitätsrate auf 2,14 Kinder pro Frau gesunken. Das enorme Wachstum – die „Bevölkerungsexplosion“ – hat sich auf Afrika verlagert, eine Frau bekommt hier im Durchschnitt 4,7 Kinder. Afrika – südlich der Sahara – ist mein Spezialgebiet. Jeden Tag nimmt die Weltbevölkerung um 250.000 Menschen zu. Im weltweiten Durchschnitt bekommt eine Frau 2,5 Kinder, in den Industrienationen 1,7 und in den ärmsten Ländern der Welt vier Kinder. Zum einen also weniger Kinder als gewünscht, auf der anderen Seite vielleicht mehr als die Frau sich selbst wünscht. Die Weltbevölkerung beträgt zurzeit etwa 7,6 Milliarden, bis 2050 wird sie nach Rechnung der Demographen auf zehn Milliarden Menschen wachsen. Die ökologischen Folgen sind kaum absehbar, schließlich geht es nicht nur darum, diese Menschen irgendwie durchzufüttern, sie streben ja alle nach einem besseren Lebensstandard – die meisten von ihnen werden in einer „Armutsfalle“ gefangen in Verelendung leben, wie sehr viele es jetzt schon in den Slums afrikanischer Großstädte tun (vgl. Daniela Roth, „Für jedes Volk ein Wartesaal.“ Afrika und seine Megastädte, in: Kursbuch 190, Hamburg 2017). Überbevölkerung, Globalisierung und technischer Fortschritt nehmen eine exponentielle Entwicklung. „Diese drei Faktoren schaukeln sich wechselseitig hoch und sind praktisch nicht mehr zu beherrschen, bis sie zu einem regelrechten Orkan werden.“ (Dirk Roßmann, „…dann bin ich auf den Baum geklettert!“ Von Aufstieg, Mut und Wandel, München 2018, S. 198). Beschleunigung, ein „unheimliches Tempo“ machen Angst.
Nirgends wachsen Bevölkerungen und Armut so schnell wie südlich der Sahara. Seit der Unabhängigkeit in den sechziger Jahren hat sich die afrikanische Bevölkerung vervierfacht. Experten gehen davon aus, dass diese demographische Entwicklung die Hauptursache für den Entwicklungsrückstand ist, noch vor schlechter Regierungsführung, Korruption und Klientelismus. Afrika hat 1,25 Milliarden Einwohner, 40 Prozent sind jünger als 15 Jahre. Nie hat es weltgeschichtlich eine so junge Bevölkerung gegeben wie derzeit in Afrika. Laut einer Prognose der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW) wird die Zahl der Jugendlichen in Afrika noch einmal wachsen: von heute 451 Millionen auf rund 726 Millionen im Jahr 2050. Das birgt weiteres Gewaltpotenzial: Gesellschaften mit vielen jungen Männern sind brutalere (und auch albernere) Gesellschaften, denken wir an das deutsche Mittelalter. Wir haben ein Migrationspotenzial in Millionenhöhe. Es wächst nämlich eine Generation heran, die wenig Aussicht darauf hat, dass das Land, in dem sie geboren wurde, sie einmal wird ernähren können. Bevölkerungsanstieg, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung sind Afrikas größte Probleme. McKinsey schätzt, dass von 2011 bis 2015 nur 21 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen worden sind. Entstanden ist eine enorme Beschäftigungslücke. Kleine Wohlstandgewinne werden vom Bevölkerungsanstieg aufgefressen. Ein tatsächlicher Fortschritt ist also nur in geringem Maße möglich, weil vom Wirtschaftswachstum pro Kopf der Bevölkerung wenig oder gar nichts übrig bleibt. Europa wirkt wie ein Magnet für die Millionen von potenziellen Immigranten vom afrikanischen Kontinent, die Beschäftigung suchen. Internet und Social Media bieten Schleusern eine Plattform, um junge Menschen mit dem Versprechen anzuwerben, dass es anderswo Jobs und Wohlstand für sie gebe. Aber ohne die richtigen Fertigkeiten ist es auch in Europa oder den USA schwer, Arbeit zu finden.
Ausbildung, Bildung sind die Schlagworte. Die Fertilitätsrate nimmt mit zunehmender Bildung ab. „Bildung ist das beste Verhütungsmittel“, so Reiner Klingholz vom Berlin-Institut (vgl. Daniela Roth, „Afrika in Frauenhand“, Blog-Eintrag vom 2. September 2018). Der kenianische Ökonom James Shikwati weist darauf hin, dass durch technische Neuerungen das Bevölkerungswachstum in afrikanischen Ländern stimuliert wird, gleichzeitig aber der Lebensstandard auf Subsistenzniveau fällt („Die Optimierungsfalle“, in: Kursbuch 171). Afrika müsse das Zeitalter der Aufklärung einläuten. Aufklärung – gesellschaftspolitisch und tatsächlich – ist das Stichwort, dem rasanten Wachstum der Weltbevölkerung etwas entgegenzusetzen. Aufklärung und Verhütung. Ansetzen muss man bei jungen Menschen. Afrikanische Regierungen müssen auch Verantwortung übernehmen. „Hilfe“ darf nicht nur von außen kommen. Wer etwas will, muss etwas dafür tun. Der Afrika-Experte Volker Seitz (Autor des Bestsellers „Afrika wird armregiert“) fordert, deutsche Entwicklungshilfe-Gelder an Bevölkerungspolitik zu koppeln. Trotz ungebremster Geburtenzahlen in Afrika ist Bevölkerungspolitik ein großes Tabu. Familienplanung bleibt ein heikles Thema, weil man sich schnell den Vorwurf des Rassismus einhandelt. Zudem gibt es religiöse Vorbehalte, weder die Bibel noch der Koran sagen etwas zugunsten einer Geburtenbeschränkung. Der Zugang zu Gesundheitsvorsorge wie zu Bildung wird von afrikanischen Eliten weder erleichtert noch gefördert. Deshalb schreitet die Reduzierung der Armut in Afrika weltweit am langsamsten voran und macht teilweise Rückschritte. Aber wer möchte, dass Afrika seine Menschen irgendwann selbst ernähren und in Lohn und Arbeit bringen kann, der sollte auch helfen, die dortigen Geburtenraten zu senken. Dirk Roßmann befürwortet, nur noch jenen Ländern zu helfen, die bereit sind, etwas für die eigene Entwicklung zu tun, etwa durch die dringend nötige Senkung der viel zu hohen Geburtenrate. Ohne ein solches Vorgehen werde man „weder die Dramen in Afrika noch die menschlichen Tragödien im Mittelmeer oder die Flüchtlingsströme eindämmen“ (zitiert in: Handelsblatt, 16.10.2018). Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gibt jährlich 100 Millionen Euro in die „Initiative Selbstbestimmte Familienplanung“. Es kommt aber darauf an, dass die Hilfe die Betroffenen auch wirklich erreicht. Wie mit den Jugendlichen umgehen? Die DSW betreibt inzwischen Jugendclubs an den Gesundheitszentren.
Nur wenige afrikanische Regierungen haben bisher in „Eigenverantwortung“ effektive Maßnahmen ergriffen, um die Geburtenrate einzudämmen. Ruanda hat die Ausgaben von Verhütungsmitteln um 60 Prozent gesteigert und gilt ebenso wie Botswana als Erfolgsbeispiel für Familienplanung. Auch Äthiopien könnte zum Vorbild für andere afrikanische Staaten werden. Mit Investitionen in die Kernbereiche Wirtschaft, Gesundheit inklusive Familienplanung und Bildung sind die Geburtenziffern deutlicher gesunken als sonst irgendwo in Afrika (in Addis Abeba sind sie besonders stark gesunken). Bessere Perspektiven für die Menschen bedeuten laut dem Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung automatisch kleinere Familien. Die asiatischen Tigerstaaten haben es vorgemacht. Im Kongo dagegen liegt die Fruchtbarkeitsrate immer noch bei 5,9 Geburten je Frau, in Nigeria bei 5,6. Besonders hohe Werte haben Sahel-Länder wie Mali, Tschad oder der bettelarmen Niger: hier liegt die Geburtenrate bei rund 7,5 Kindern pro Frau. Bedenklich ist, dass es immer noch afrikanische Politiker gibt, die sich für eine Zunahme der Geburten einsetzen. Tansanias Präsident John Magufuli („der Bulldozer“) hat Anfang September 2018 Frauen aufgefordert, auf Verhütungsmittel zu verzichten, denn das Land brauche mehr Menschen. (Tansania hat eine Bevölkerung von rund 53 Millionen Menschen, von denen 49 % mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen müssen.) Nur Faulpelze seien für Geburtenkontrolle, sagte er. „Sie wollen nicht hart arbeiten, um ihre große Familie zu ernähren.“ Er habe in Europa die Folgen der Geburtenkontrolle gesehen, sagte Magufuli. „In einigen Ländern kämpfen sie mit Bevölkerungsschwund und Arbeitskräftemangel.“ Ob es Magufuli entgangen ist, dass der Wohlstand in Europa viel höher ist?
Um den Wohlstand pro Kopf zu steigern, ist – da Armut und Bevölkerungswachstum zusammenhängen – Geburtenkontrolle das „nächstliegende Rezept“ (Stephen Smith, „Nach Europa! Das junge Afrika auf dem Weg zum alten Kontinent“, Berlin 2018, S. 182). Vermutlich geht es aber nicht bloß um Wohlstand, sondern schlicht um den Fortbestand der Erde. Kants moralischer Imperativ, von dem Denker der Umweltbewegung Hans Jonas in einen „ökologischen Imperativ“ umgeleitet, lässt sich auch auf die Weltbevölkerung beziehen: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Auch das kann eine Perspektive eines selbstbestimmten Lebens sein. Renate Bähr von der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung ist der Ansicht, dass das Weltbevölkerungswachstum nicht zu stoppen ist. Der Schwerpunkt muss ihrer Meinung nach so gelegt werden, dass Kinder geboren werden, die erwünscht sind, die gesund sind und die eine Perspektive im Leben haben (ARD, Weltbevölkerungsbericht, 17.10.2018). Raffen Naturkatastrophen, Seuchen oder Kriege dereinst einmal viele Menschen dahin (was nach meiner Meinung wahrscheinlich ist), haben diese Menschen zumindest ein glücklicheres Leben gehabt. Laut einem UN-Bericht sind fast 20 Millionen Schwangerschaften pro Jahr in Afrika ungewollt. Der französische Präsident Emmanuel Macron sagte am 28. November 2017 in der Universität von Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso: „Es gibt in Afrika viele Familien mit sieben, acht oder neun Kindern pro Frau. Sind Sie sicher, dass dies jedes Mal die Entscheidung der jungen Frauen war? Ich will, dass ein junges Mädchen darüber entscheiden darf, ob sie mit 13 oder 14 Jahren heiratet und Kinder bekommt.“
Zu wenig Aufklärung, zu wenig Zugang zu Verhütungsmitteln, zu frühe Schwangerschaften: manche afrikanische Frau wird mit 12, 13 Jahren zwangsverheiratet und bekommt in dem Alter bereits Kinder. Was tun? Intellektuelle, Vorbilder, „Idole“ können etwas bewirken. Afrikanische Künstlerinnen und Künstler könnten sich zum Thema äußern. Romuald Hazoumè aus Benin thematisiert in seiner Arbeit „Exit Ball“ Fußball – und Überbevölkerung. Jonathan Franzen schreibt in seinem Roman „Freiheit“ über die Grenzen des Wachstums und eine „Überbevölkerungsinitiative“. Farouk Jega, Direktor des Nigeria-Büros der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung, sagte in einem Interview mit der Deutschen Welle am 21. September 2018, aufgeklärte Nigerianer diskutierten bereits über die Nachteile von Kinderehen und das verbreitete Stereotyp, dass viele Kinder ein Garant für die Altersversorgung seien. In agrarisch geprägten Gesellschaften wird das Gut, Kinder zu haben, besonders hoch gewertet, ohne darauf zu schauen, wie man sie dann auch tatsächlich ernähren kann und wie Arbeitsplätze geschaffen werden können. Es ist ein langer Prozess, Bewusstsein und Verhalten von Menschen zu verändern. Die besonders von Armut Betroffenen müssen von sich aus erkennen, dass „hohe Fertilitätsraten“ ein Problem sind. Im eingangs genannten Bangladesch hat es Kampagnen zur Sensibilisierung gegeben: „Eine weniger zahlreiche Familie ist eine glückliche Familie.“