Belting und Buddensieg: das Senghor-Buch

Léopold Sédar Senghor war der erste Staatspräsident des 1960 unabhängig gewordenen Senegal, der in der Kolonialzeit zu Französisch Westafrika gehörte. Senghor war geistiger Brückenbauer, Politiker und Dichter. Hans Belting und Andrea Buddensieg haben ein Buch über den Schöngeist, den Humanisten Senghor geschrieben. 1966 war Senghor mit dem Festival Mondial des Arts Nègres, dem „Weltfestival der Negerkünste“, Impulsgeber für die spätere „Dak’Art“. Diese Kunstbiennale in Dakar, der Hauptstadt Senegals, war 1992 die erste in Afrika südlich der Sahara und findet seitdem regelmäßig statt. Senghor (1906-2001) hatte in Dakar eine nationale Kunstszene aufgebaut. Sein Konzept, die Négritude, ist bis heute umstritten. Senghors Aussage, die Vernunft sei griechisch, der „Neger“ eher emotional, machte ihm kaum Freunde. Landsleute warfen ihm vor, die Négritude sei eine Sklavin der Francophonie. Belting und Buddensieg sehen in Senghor den Visionär für einen Neuanfang der Welt mittels Kunst und Kultur. In der Medien- und Konsumära sei dieser Typus „quasi ausgestorben“. Dass die „vergessene oder verdächtige Kulturpolitik“ Senghors scheiterte, habe weniger an der Idee, eher an den Bedingungen gelegen. Muss eine Idee nicht gerade für ihre Bedingungen taugen? Senghors Vision war ein Dialog der Kulturen, ein weltweiter Humanismus, eine Moderne aus afrikanischer Sicht. „Multiple Modernen“ sind – mit Rasheed Araeen – länger schon Beltings Thema. Senghor habe in Paris, damals Zentrum der modernen Kunst, die Moderne gesucht.

Senghor lebte in mehreren Welten. Er stammte aus einer Großfamilie. Ein Leben lang orientierte er sich am Ehrenkodex „jom“ seines Volkes, der Sereer: die moralische Integrität der Person ist die erste Lebensregel, das Bewusstsein der Verantwortung für die Gemeinschaft. Als Christ war Senghor schon als Kind in zwei Welten zuhause. Im Internat der Väter vom Heiligen Geist erfuhr er die interkulturelle Erziehung in zwei Sprachen, in der Landessprache Wolof und dann in Französisch. Diese Ausnahme war der Kolonialverwaltung ein Stein des Anstoßes. Senghor setzte sich später für eine solche Schulbildung ein, für ein „afro-französisches“ Milieu, für Doppelsprachigkeit, für eine schwarzafrikanische Literatur in französischer Sprache in Analogie zum Jazz: Instrumente der westlichen Kultur und Artikulation afrikanischer Tradition. Die Geschichte seines Volkes, der Mythos, war sein „Reich der Kindheit“. 1923 wechselte Senghor nach Dakar. Hier hätten die Lehrer ihn glauben machen wollen, dass die französische Kultur derjenigen Schwarzafrikas überlegen war. Senghor schloss 1928 mit dem Baccalauréat ab, er hatte auch Latein und Griechisch gelernt. Er ging nach Paris, um klassische Philologie zu studieren. Am Lycée Louis-le-Grand entstand eine lebenslange Freundschaft mit dem Klassenkamerad Georges Pompidou. Pompidou machte Senghor mit der zeitgenössischen französischen Literatur und mit der Pariser Kunstszene vertraut. Senghor schloss Freundschaft mit dem karibischen Dichter Aimé Césaire, dem Begriffsgeber für die „Négritude“. Die École normale supérieure verließ Senghor als erster afrikanischer Agrégé. Bald fand er als Dichter Erfolg. Seine „Anthologie“ von 1948 mit Jean-Paul Sartres berühmtem Vorwort „Schwarzer Orpheus“ wird der Weltliteratur zugeordnet. Sehr sensibel orientieren sich Belting und Buddensieg an Senghors Texten, seiner Autobiographie, seinen Reden, Essays, Kunstkritiken. In der Dichtung Senghors lebt eine eigene Emotion, die seinen Reden und Essays fehlt, stellen sie fest, in ihr spricht der Träumer, in den Prosatexten der Politiker.

Der „Dialog der Kulturen“ in Senghors Biographie zeigt die Krux der interkulturellen Kompetenz: Er stand immer zwischen den Fronten. In einem Gespräch mit André Malraux 1966 waren sich beide einig, dass Senghor „in Afrika als Franzose diffamiert und in Frankreich als Afrikaner belächelt wurde“. Belting und Buddensieg sprechen von einer „kulturellen Métissage“, einer Mischkultur. Frankreich habe sich nicht auf eine Métissage eingelassen, sondern mit seiner kolonialen Ideologie Menschen zerstückelt, so Senghor. Erst in einer Weltgesellschaft, einer Civilisation de l’universel, würden Afrikaner die Chance haben, zu sich selbst zu kommen. Eine „Métissage“ aus „Kelten und Lateinern, Lateinern und Germanen, Germanen und Kelten“, sah Senghor auch im katholischen Rheinland. Nach Konrad Adenauers Tod wurde Senghor 1979 in das Institut Français gewählt, als Mitglied der Académie des sciences morales et politiques, und hielt seine Antrittsrede als Nachruf auf Adenauer. Senghor konnte Deutsch, er gilt als Goethe-Kenner, er erhielt den Friedenspreis des deutschen Buchhandels 1968.

Zögerlich ging Senghor 1946 in die Politik. Er bedauerte, dafür die akademische Laufbahn aufgeben zu müssen. Er wurde als afrikanischer Repräsentant Abgeordneter der französischen Nationalversammlung (eine Besonderheit kolonialpolitischer Praxis). Es galt, die Weichen für das Ende der Kolonialzeit zu stellen. Vergeblich warb Senghor für ein vereinigtes Europa unter Einschluss Afrikas: ein Eurafrika. Senghor – wie auch Houphouet-Boigny, erster Präsident der ebenfalls 1960 unabhängig gewordenen Côte d’Ivoire – kam die Beendigung des Kolonialstatus zu früh. Er hatte Frankreich verpflichten wollen, weiterhin in Infrastruktur und Wirtschaft der Kolonien zu investieren, wurde aber von „der anti-kolonialen Utopia“ überholt. 1958 kam General de Gaulle an die Macht. Georges Pompidou war Kabinettschef.

Für Senghor standen, als er 1960 Präsident Senegals wurde, Bildung, Wissenschaft und Kunst im Vordergrund: fast ein Viertel der Staatsausgaben war kulturellen Aktivitäten gewidmet. Aber schon in den 1960er Jahren war Senghor Spannungen ausgesetzt: er war Christ in einem überwiegend muslimischen Land; die Studentenbewegung war sozialistisch. In den 1970er Jahren verschlechterte sich die Wirtschaftslage dramatisch: Ölkrise, Staatsverschuldung des Senegal, Bevölkerungswachstum, Angewiesensein auf Entwicklungshilfe. Französische Investoren zogen sich zurück. Innenpolitisch stand Senghor unter Druck, außenpolitisch verlor er die Führungsrolle Senegals in Westafrika.

Belting und Buddensieg richten den Fokus auf die Kunst. Erhellend sind ihre Quellendarlegungen zum Festival Mondial des Arts nègres. Erstaunlich ist, dass den beiden Kunsthistorikern offenbar erst jüngst klar wurde, dass sowohl Picasso als auch Soulages in Dakar ausstellten. Dabei hatte sich Belting in „Das Erbe der Bilder“ (1998, gemeinsam mit Lydia Haustein) schon einmal Afrikas angenommen. Belting sieht Bilder als kulturelle Bilder: die eine Kultur prägen und von ihr geprägt werden. Kann „eine neue globale Kunst so etwas wie eine Arche Noah sein, in welcher Kulturen überleben“? Im Zusammenhang von Kunst und Kultur, „besser: von Kunst, im Singular, und den Kulturen, im Plural“, zitiert Belting damals auch: Wenn ein Greis in Afrika stirbt, sagt man, brenne eine Bibliothek ab. Und Belting sagt für „Bibliothek“: „man könnte auch Bildarchiv sagen“. Heute schreibt er: „Postkolonial“ bleibe im Wettbewerb der Diskurse stecken, stifte noch keine neue Perspektive. – Dafür verehrt man einen Belting. Und dafür, dass er nicht der Political Correctness-Mode verfällt und auch in seinem Sprachgebrauch das Wirken Senghors in der Zeit widerspiegelt, in der Senghor gelebt hat – und die Hans Belting teilweise auch aus eigenem Erleben kennt.

Senghor beschwor zum Festival Mondial des Arts nègres die Einheit Afrikas und die Zukunft der Kunst in Afrika. Mit Kunst wollte er „die Sprachgrenzen überwinden, welche die einstigen Kolonien Afrikas voneinander trennten“ – und „die sozialen Schranken zwischen Stadt und Land abbauen“. Diese Kunst, die er meinte, existierte noch gar nicht, und er schuf durch Kunstakademie, Kunstgewerbeschule und Kunstmuseum eine Infrastruktur. Es hätte aber auch eine neue Klientel entstehen müssen, die in Galerien kaufte. „Es zeigte sich bald, dass man es am Ende mit dem Tanz leichter hatte als mit Galeriekunst.“ Bislang hat der Tanz, der im westlichen Konzept der Kunst nicht die gleiche Bedeutung habe „wie für den Afrikaner Senghor“, kaum Eingang in die allgemeine Senghor-Forschung gefunden. Belting und Buddensieg schließen diese Lücke mit einem aparten, dichten Abschluss-Kapitel. Die Mudra Afrique, die erste Tanzschule Afrikas, ein 1962 gegründetes Ballett, zog 1977 ins Musée Dynamique ein. Afrikas Tanz hatte weltweit größere Aufmerksamkeit gefunden als die bildende Kunst („für welche das Monopol des Westens noch immer hohe Hürden errichtete“). Es sei an der Zeit, so Senghor, den populären Tanz der Afrikaner radikal zu modernisieren, um ihn auf internationaler Ebene konkurrenzfähig zu machen. Für Senghor war der Tanz schon früh „eine dynamische Skulptur“. Der Tanz leistete nun einen Beitrag zur Civilisation de l’universel. Die Leitung der Schule Mudra Afrique vertraute Senghor der Beninerin Germaine Acogny an, die als Choreographin in Dakar arbeitete. Neben der UNESCO beteiligte sich die Gulbenkian-Stiftung an der Finanzierung, zudem finanzierte Senghor die Schule aus eigenen Mitteln. Acogny leitet heute ihre eigene Schule „Ecole de Sables“ in Toubab Diallaw im Senegal. Wer einmal dort war oder die „erste afrikanische Oper“ Bintou Were in Paris oder Bamako gesehen hat, kann ein „afrikanisches Selbstbewusstsein“ schätzen.

Senghor allerdings musste Einschnitte in seinem Kulturprogramm vornehmen und empfand das als Niederlage. 1978 wurde er noch einmal für vier Jahre gewählt, aber bereits 1980 trat er vorzeitig zurück. Als Nachfolger hatte er den Wirtschaftsfachmann Abdou Diouf nominiert. Er selbst fühlte sich den neuen Bedingungen wirtschaftspolitisch nicht gewachsen. In Frankreich erfuhr er die größte denkbare Anerkennung für einen Schriftsteller: die Académie Française wählte ihn als ersten Afrikaner zum Mitglied, und damit in den Kreis der Unsterblichen.

Immer hatte Senghor sich auch auf die Landbevölkerung gestützt, seiner eigene Herkunft eingedenk. Die Macht afrikanischer Staatschefs heute beruht oft auf Stadtbevölkerungen. Die neokoloniale Wirtschaftspolitik habe kein Modell für „Entwicklungsländer“ geboten, befinden die Autoren Belting und Buddensieg. Im Vergleich haben sich aber asiatische Länder durch Bildung, Familienplanung und Arbeitsplätze aus der Armut herausgearbeitet. In kaum einem afrikanischen Land ist es gelungen, volksnahe, selbstbestimmte Volkswirtschaften aufzubauen. Auch mit Kunst und Kultur wäre es schwerlich gelungen. Die Politik, die Wirtschaftspolitik, hat eben doch immer das letzte Wort. Belting und Buddensieg meinen, in Afrika fehlten Geld und Institutionen zur Förderung der Kunst. Nein, es fehlt der politische Wille. Wie Achille Mbembe sagt: dortige Staatschefs verstehen unter Kultur meist Agrikultur.

 

Hans Belting und Andrea Buddensieg, Ein Afrikaner in Paris. Léopold Sédar Senghor und die Zukunft der Moderne, Verlag C. H. Beck, München 2018. 288 Seiten mit 68 Abbildungen, davon 23 farbig. Gebunden 28,- Euro, E-Book 23,99 Euro.